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Interview mit Michael Welte

Jesus, Maria, Kaiser Konstantin und die Überlieferung des Neuen Testaments

Interview mit Michael Welte, Theologe und bis zu seiner Pensionierung 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für neutestamentliche Textforschung der Universität Münster. In dem von Prof. Kurt Aland gegründeten Institut befindet sich eine der weltweit grössten Sammlungen an Mikrofilmen fast aller neutestamentlichen Handschriften, die in der Münsteraner Forschungsstelle ausgewertet werden. Das von Nestle/Aland herausgegebene Novum Testamentum Graece wird weltweit als Textgrundlage für die meisten Bibelübersetzungen benutzt. Seit 1962 arbeitete Michael Welte als Textforscher im Institut. Hunderte von uralten Bibelhandschriften sind im Original durch seine Hände gegangen. Zur Zeit arbeitet das Institut an einer digitalen Edition der wichtigsten Handschriften des griechischen Neuen Testaments mit textkritischem Apparat. Ein Prototyp ist im Internet verfügbar (http://nttranscripts.uni-muenster.de/ Die 28. Auflage des wissenschaftlichen Urtextes ist in Vorbereitung incl. einer interaktiven CD-ROM-Version. Michael Welte ist Co-Autor des Sachbuches: „Das wahre Sakrileg. Die verborgenen Hintergründe des Da-Vinci-Codes – Das Geheimnis hinter Dan Browns Weltbestseller”, Knaur 2006, ISBN 3426779552, 7.95 €.

 Dem weltberühmten Institut für neutestnamentliche Textforschung, einer Einrichtung der Universität Münster, ist ein kleines, aber feines Bibelmuseum angeschlossen, in dem wertvollste Handschriften und Bibeldrucke ausgestellt sind. Der Besuch des Museums ist kostenlos. Informationen zu den Öffnungszeiten unter uni-muenster.de/NTTextforschung

Alexander Schick: Dan Brown behauptet, das die „Schriftrollen ... vom Toten Meer die frühesten Dokumente des Christentums” seien (S. 337). Enthalten die Qumrantexte bisher unbekannte Informationen über Jesus? Hat der Vatikan die Herausgabe der Qumranrollen verhindert?

Michael Welte: Nichts dergleichen! Die Bedeutung der Schriftrollen vom Toten Meer liegt ganz woanders. Ihr nicht hoch genug einzuschätzender Wert liegt darin, dass sie das bis dato bekannte Urteil über die Qualität der alttestamentlichen Überlieferung bestätigen. Sie bestätigen aufs Eindrücklichste die Treue, mit der die Botschaft des ersten Teils der christlichen Bibel von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Sie machen damit den von Anfang an als zuverlässig geltenden Text noch sicherer. Die Schriftrollen enthalten jedoch nachweislich keinerlei Informationen über Jesus von Nazareth. Die Behauptung, der Vatikan habe mit allen Mitteln versucht, die Herausgabe der Qumrantexte zu verhindern, ist schon dadurch widerlegt, dass ihre inzwischen abgeschlossene Veröffentlichung unter der Aufsicht der jordanischen und israelischen Antikenverwaltung geschah.

Alexander Schick: Und die Nag-Hammadi-Schriften aus Ägypten? Gibt es dort Hinweise, dass Jesus verheiratet war?

Michael Welte: Die Nag-Hammadi-Schriften haben überwiegend gnostischen Charakter. Zu den bekanntesten und am meisten untersuchten Texten zählt das Thomas-Evangelium. Hinweise darauf, dass Jesus verheiratet war, sind bei der Auswertung der Funde von Nag-Hammadi nicht entdeckt worden.

Alexander Schick: Brown behauptet: „Das Neue Testament, wie wir es heute kennen, geht auf ... Kaiser Konstantin zurück” (S. 318). Hat Konstantin den Kanon des Neuen Testaments festgelegt?

Michael Welte: Das Neue Testament, wie wir es heute kennen, lässt sich inzwischen – nicht zuletzt dank der zahlreichen Textfunde des vergangenen Jahrhunderts – mit relativ großer Sicherheit auf seinen ursprünglichen Text, d.h. bis in die Zeit seiner Entstehung bzw. seiner ersten Verbreitung zurückführen. Der heute von allen christlichen Kirchen als verbindlich angesehene Kanon der biblischen Schriften geht bis in die Zeit um 200 n. Chr. zurück, hat also überhaupt nichts mit Kaiser Konstantin zu tun! Er enthält das, was von Anfang an für das Ältestete und Vertrauenswürdigste gehalten wurde. Entsprechend haben die zahlreichen, über unser Neues Testament hinaus bekannt gewordenen Evangelien, Apostelbriefe und Apokalypsen nicht nur wegen ihres jüngeren Alters, sondern besonders auch wegen ihres Abweichens vom Kern der christlichen Botschaft keinen Eingang in den Kanon gefunden.

Alexander Schick: Aber Brown behauptet doch steif und fest, dass Konstantin "Tausende von Handschriften" vernichten liess (S. 322). Er lässt seine Leser im Glauben, dass die Bibel im Auftrag Konstantins in den kaiserlichen Schreibstuben verfälscht wurde.

Michael Welte: Konstantin der Grosse hat "Tausende von Handschriften" vernichten lassen? Ganz im Gegenteil! Weil viele Bibeln in den voraufgegangenen Christenverfolgungen vernichtet worden waren, hat Kaiser Konstantin im Jahre 331 für die Hauptkirchen seines Reiches neue Bibelhandschriften herstellen lassen. Es handelt sich um 50 beim Bischof Eusebius von Cäsarea in Auftrag gegebene Exemplare. Zu deren sicherem Transport standen zwei staatliche Postwagen zur Verfügung. Aus dem Begleitschreiben des Bischofs geht nämlich hervor, dass diese neuen Bibelausgaben besonders aufwendig und kostbar gestaltet waren. Dass wir uns heute eine genaue Vorstellung davon machen können, wie der Text des Neuen Testaments in der Zeit vor Konstantin aussah, verdanken wir den sensationellen Papyrusfunden, wie den Oxyrhynchus-, den Bodmer- und den Chester Beatty Papyri. Im trockenen Klima Ägyptens, wo sie regelrecht im Wüstensand vergraben waren, konnten zahlreiche Handschriften aus der Zeit vor Konstantin die Jahrhunderte überdauern. Vergleicht man diese Papyri aus der Zeit vor Konstantin mit den „Auftragstexten” Konstantins, ergibt sich, dass sie keine andere Botschaft als die ursprüngliche enthalten.

Alexander Schick: Es gab also keine kirchliche Zensur unter Konstantin?

Michael Welte: Nein!

Alexander Schick: Sie sagen, die Kanonbildung habe nichts mit Konstantin zu tun. Aber in Sakrileg wird behauptet, dass wir keine neutestamentlichen Handschriften haben aus der Zeit vor Konstantin.

Michael Welte: Ganz im Gegenteil! Dank der bereits erwähnten sensationellen Funde des 20. Jahrhunderts steht uns schon aus der Zeit um 200 n. Chr. mit den Papyri der Bibliotheken Chester Beatty und Bodmer fast die Hälfte des Neuen Testaments auf Papyrus zur Verfügung. Die Zahl der heute bekannten Handschriften des Neuen Testaments ist beachtlich. Betrug sie zu Beginn des vorigen Jahrhunderts 3829, so liegt sie heute bei 5750.

Alexander Schick: In „Sakrileg” heisst es, die „Ehe zwischen Jesus und Maria Magdalena ist historisch verbürgt”. Stimmt das?

Michael Welte: Nein, dafür gibt es keinerlei ernsthafte Belege!

Alexander Schick: Aber Brown behauptet: „Nach den Anstandsregeln der damaligen Zeit war es einem jüdischen Mann praktisch verboten, unverheiratet zu bleiben” (S. 337).

Michael Welte: Browns Mutmaßungen zu Ehe und Zölibat sind durch zeitgenössische Quellen widerlegt. So berichtet der jüdische Historiker Flavius Josephus doch gerade von den besonders gesetzestreuen Essenern, dass ein Teil von ihnen eben nicht verheiratet war. Und der Apostel Paulus fordert gar die Nachfolger Jesu auf, wenn sie es können, ledig zu bleiben, um Gott intensiv dienen zu können. Ausführlich habe ich das Thema in unserem Buch „Das wahre Sakrileg – Die verborgenen Hintergründe des Da-Vinci-Codes” (Knaur 2006) untersucht. Fazit der Quellenstudie: Es gibt keinerlei Hinweise auf eine Ehe zwischen Maria und Jesus!

Alexander Schick: Aber nun wird doch das apokryphe Philippus-Evangelium in „Sakrileg” oft zitiert und gerade als Beweis für die Ehe zwischen Jesus und Maria angeführt. Brown zitiert folgendes: „Und die Gefährtin des Erlösers war Maria Magdalena. Christus liebte sie mehr als seine Jünger und küsste sie oft auf den Mund” (S. 337). Er erklärt: „Jeder, der des Aramäischen mächtig ist, wird ihnen bestätigen, dass das Wort Gefährtin in jenen Tagen nichts anderes als Ehefrau bedeutet hat” (S. 338). Sie sind Spezialist für die Sprachen der Bibel. Was sagen Sie, als Experte dazu? Sind die Nag-Hammadi-Texte in aramäisch abgefasst und bedeutet im Aramäischen das Wort Gefährtin immer Ehefrau?

Michael Welte: Auf welche Abwege es führt, wenn jemand glaubt, in einem Fach mitreden zu können, in dem er von jeder Kenntnis ungetrübt ist, wird zwar nicht erst an dieser Stelle deutlich. Aber hier ist es symptomatisch. Man mag ja des Aramäischen mächtig sein – das bringt nur nichts, wo es um einen Text geht, der aus Nag-Hammadi kommt. Da wissen in der Regel auch schon die Laien, dass es sich dabei ausschließlich um Schriften in koptischer Sprache handelt! Um noch etwas zur eigentlichen Frage zu sagen. Im griechischen Neuen Testament gibt es das entsprechende Wort für „Gefährtin” auch. Dort wie hier im Koptischen ist es am ehesten im Sinne einer „Weggefährtin” zu verstehen. Es geht also ganz einfach um Jüngerschaft.

Alexander Schick: Aber die Anhänger von „Sakrileg” werden sagen, da steht doch, dass Jesus Maria auf den Mund geküsst habe.

Michael Welte: An dieser Stelle ist die Überlieferung lückenhaft. Der Text ist mitten im Satz unterbrochen. Nicht ein einziger Buchstabe ist von dem gemutmaßten Wort „Mund” zu sehen. Im Übrigen bedeutet in der frühen Christenheit der Kuss bei der Begrüßung nicht mehr und nicht weniger als ein Symbol. Es ist das Zeichen der neuen Gemeinschaft.

 Das Philippus-Evangelium, eines der Funde aus Nag Hammadi. Die Blätter sind stark durchlöchert. Das abgebildete Blatt enthält die angebliche Stelle „Er küsste sie oft auf ...” doch dann folgt eine Lücke. Von dem gemutmassten „Mund” ist auf koptisch nicht mal ein einziger Buchstabe zu finden. Selbst wenn man diese späte Schrift als historische Quelle ernst nimmt (was aber sehr zweifelhaft ist, denn diese apokryphe Schrift wurde erst 200 Jahre nach der Zeit Jesu verfasst), so bedeutete ein Kuss in der ersten Christenheit nicht sofort, dass es sich um eine intime Gemeinschaft handelt, wie schon ein Blick ins Neue Testament verrät: „Grüßet euch untereinander mit dem heiligen Kuss” (Römer 16,16; 1. Korinther 16,20 etc.). Es handelt sich also um einen Begrüssungskuss, wie man ihn auch heute kennt.

Diese apokryphe Schrift ist auch nicht in Aramäisch geschrieben, wie Brown schreibt sondern in koptisch – einer späten Form des Ägyptischen. Diese Schrift ist eine Übersetzung aus einem früheren griechischen Text, was auch nichts mit Aramäisch zu tun hat. Brown zeigt mit seinen angeblich so „wahrheitsgetreu” wiedergegeben Fakten lediglich, dass er keine Ahnung von der Materie hat!

Foto entnommen aus: Robinson, James M., The Facsimile Edition of the Nag Hammadi Codices: Codex II, Leiden 1974- mit freundlicher Genehmigung von Hans van der Meij, Koninklijke Brill NV, Leiden & Boston.

Alexander Schick: Sie haben weltweit die Klosterbibliotheken und deren Bestände untersucht. Wie oft waren Sie in den verschiedenen Klosterbibliotheken und wie viele Handschriften sind durch Ihre Hände gegangen?

Michael Welte: Ein Dutzend Mal. Insgesamt habe ich Hunderte von Handschriften in den Händen gehabt.

Alexander Schick: Haben Sie irgendwo eine Handschrift entdeckt, die uns ein neues Bild von Jesus zeichnet?

Michael Welte: Ich habe keine Handschrift entdeckt, deren Text uns nötigte, ein Bild von Jesus zu zeichnen, das anders ist als das des Neuen Testaments, wie wir es kennen und wie es uns vertraut ist. In der gesamten Überlieferung des Neuen Testaments – und das sind ja nicht nur die weit mehr als 5000 Handschriften, dazu gehören auch die frühen Übersetzungen in die verschiedenen Landessprachen und die Zitate aus dem Neuen Testament in den Schriften der Kirchenväter – gibt es nur ein Bild von Jesus, das des gekreuzigten und auferstandenen Herrn und Heilands der Welt.

Alexander Schick: Wie kann man sich denn ein genaues Bild von Jesus machen? Was raten Sie unseren Lesern?

Michael Welte: Das Neue Testament lesen! Und bis auf den heutigen Tag erweist sich dann immer noch und immer wieder die Wahrheit des Evangeliums dadurch, dass Menschen von seiner Botschaft angesprochen werden und sich wie die ersten Jüngerinnen und Jünger nun selbst auf den Weg in die Nachfolge Jesu machen.

Alexander Schick: Warum hat „Sakrileg” trotz seiner Irrtümer einen solchen Erfolg?

Michael Welte: Weil es sich antichristlich und antikirchlich gibt und die Leser glauben macht, dass alles doch ganz anders war.

Alexander Schick: Wie sollen Christen reagieren, wenn Bekannte mit ihnen über dieses Buch diskutieren?

Michael Welte: Dazu muss man noch nicht einmal mit theologischem Fachwissen aufwarten. Brown hat auch in der Fachwelt der profanen Literatur schlechte Karten. So bezeichnet der Literaturkritiker Denis Scheck Dan Brown als den „amerikanischsten Schundautor, den man sich vorstellen kann” und nennt Sakrileg eine „reine Kolportage”, „Schund, aber spannenden Schund”, „frei nach Henry Kissingers Maxime geschrieben: ‚Nur weil ich paranoid bin, heisst das nicht, dass nicht alle hinter meinem Kopf her sind’.”

Alexander Schick: Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.


Literaturhinweis: Michael Welte, „Das Sakrileg an der Wahrheit - Ein Textwissenschaftler nimmt Dan Browns biblische Fakten unter die Lupe” in: Alexander Schick, „Das wahre Sakrileg. Die verborgenen Hintergründe des Da-Vinci-Codes – Das Geheimnis hinter Dan Browns Weltbestseller”, Knaur 2006, S. 123-156, ISBN 3426779552.